... , weiter unten haben sie dem Bach alle Freiheit genommen. Dort gibt es kein eigenes Tempo mehr, keine Mäander und kein Nebenrinnsal. Betoniert ist das Bachbett, schnurgerade. Keine Vielfalt ist möglich, alles wird mitgerissen und schliesslich in
eine dunkle Röhre gedrängt. Bei langem Regen oder nach einem schweren Gewitter befreien sich die Wassermassen.
Wasser muss ein gewisses Mass an Freiheit haben, seine Bewegung darf nicht behindert oder eingeengt werden. Es will weiter kommen, weiterdrängen, sich entwickeln. Es muss sich seinen Weg suchen dürfen, sich teilen und neu zusammenkommen. Dann ist es sanft und überschäumend, zärtlich und kraftvoll. Wenn man es unnötig kanalisiert, normiert oder in übertriebender Weise staut, dann bricht es aus, gerät ausser Kontrolle und wird zur Bedrohung. Sanft geleitet, mit Bogen und Umwegen, mit genügend Platz zur Entfaltung bleibt es mehr oder weniger in seiner Bahn. ...
Dorothea Bernet Meier
aus ferment 5/2001
In welcher Blog-Rubrik soll ich diesen Text posten?
Meine Resonanz ist vielfältig. Natur oder Kultur? Mensch oder Wirtschaft? Warum nicht Arbeit? Und passt der Text nicht auch zur Politik?
Der Mensch besteht zu 75 Prozent aus Wasser. Das merken wir besonders, wenn wir mal wieder im "flow" sind, wenn es gut läuft. Die Oberfläche der Erde, die wir zu Recht "blauer Planet" nennen, ist zu 71 Prozent von Wasser bedeckt. Eigentlich sind wir alle Wassermänner und -frauen.
Während ich dies schreibe, strömt draussen der bereits seit Stunden fallende Regen weiter. Auf den Plätzen der Welt strömen immer wieder und immer unaufhaltsamer Menschenmassen zusammen. Die geheimen Informationen sprudeln aus inoffiziellen Quellen.
Ich entscheide mich schliesslich diesen Eintrag in der Rubrik Natur zu veröffentlichen. Nicht zuletzt in der Hoffnung, dass wir noch mehr lernen, von der Natur zu lernen. Und in der Hoffnung darauf, dass wir endlich auch überschäumend, zärtlich und kraftvoll werden.
Die vom Pallotiner-Verlag herausgegebene Zeitschrift ferment kombiniert ausgewählte Fotografie mit Prosa und Lyrik. Lange Jahre waren der katholische Theologe und Autor Pierre Stutz und die im Jahr 2011 verstorbene Religionspädagogin und Autorin Vreni Merz Mitglieder der ferment-Redaktion.