Am Ende des Arbeitstages begann die eigentliche Arbeit, die ja schliesslich auch erledigt werden musste. Auf Dauer war diese Doppelbelastung mit gleichzeitig stark abnehmender Effizienz auch der Abteilung und dem HR-Manager nicht verborgen geblieben.
Hatte er im ersten Jahr seiner manischen Beschneidungssucht noch wohlwollend, wenn auch etwas süffisant, ein Buch über Origami als Geschenk von den Kollegen zum Geburtstag erhalten, war im dritten Jahr Schluss mit dem Integrationsverständnis seiner Abteilung.
Man beschuldigte ihn die Papierabfälle, der beschnittenen Blätter, nach Hause mitgenommen zu haben. Wegen übergenauer Arbeitsweise konnten Sie ihn nicht fristlos entlassen, das wäre beim Arbeitsgericht niemals durchgekommen.
Hans Vögeli war kaum geknickt. Am ersten arbeitsfreien Tag kaufte er bei der Migros eine Familienpackung Wattestäbchen. Mit Hingabe und einem wohldosierten Mass an Freude widmete er sich in den nächsten Wochen den Fugen seiner Badezimmerfliesen und anschliessend den schlecht zugänglichen, versteckten Ritzen seiner Einbauküche.
Schliesslich war es die Frau bei der Laufbahnberatung, die den rettenden Einfall hatte. "Herr Vögeli?", "Vögeli! Ja!", rief sie entzückt. "VfV: Vermessungstechniker für Vogelhäuser, das müsste Ihnen doch liegen."
Seinem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben stand nichts mehr im Weg. Da es kein Unternehmen gab, das VfVs beschäftitge oder ausbildete, machte er sich selbstständig. Das nötige Startkapital war überschaubar. Seine Kernkompetenz würde ein schnelles "Learning on the Job" ermöglichen.
Er produzierte ein bis zwei Vogelhäuser im Jahr. Einzelstücke, bei deren Planung, die jeweilige, individuelle Geländesituation inklusive bevorzugter Vogelanflugschneisen bei der Konstruktion und Fertigung von ihm berücksichtigt wurden. Seine Kunden zahlten Liebhaberpreise. Alles war gut!
Bis zu dem Tag als ein Käufer nicht nur das Vogelhaus inklusive fachkundiger Aufstellung und Ausrichtung im Gelände verlangte, sondern auch die sachkundige Befüllung des dafür vorgesehenen Behälters mit Spezialfutter.
Hans Vögeli war drei Tage und Nächte im Garten seines Kunden vergeblich damit beschäftigt gewesen, die Sonnenblumenkerne ihrer Grösse nach zu sortieren und ein stimmiges Gesamtbild im transparenten Futtermittelbehälter zu erreichen.
Gerade als er kopfschüttelnd zum 17ten Mal von vorne beginnen wollte, fasste ihn ein Mann vorsichtig von hinten an der Schulter. "Herr Vögeli?", "Meier, Universitätsklinik Zürich.", stellte er sich vor. "Herr Vögeli, bitte kommen Sie mit mir, wir benötigen dringend ihre Hilfe. Sie wurden uns als Experte genannt. Wir haben berechtigte Zweifel, das etwas mit dem Format unseres DIN-A4-Druckerpapiers nicht stimmt."
Gabriele Castagnoli, November 2013
Das Berufsbild des Vermessungstechnikers in der Schweiz und in Deutschland/Österreich